Universität Leipzig mit Kirche St Pauli © Universität Leipzig
by Carlos S. Francis
Mehr als 700 Jahre lang hatte die Universitätskirche St. Paul, das Herzstück der Universität Leipzig (1409), überlebt. Der Dreißigjährige Krieg (1618-48), der 20 Prozent aller Deutschen tötete, die Napoleonischen Kriege (1803-1815) und selbst der heftige anglo-amerikanische Luftangriff am 4. Dezember 1943, bei dem die Stadt mit bombardiert wurde, hatte sie verschont. Die Bomben rutschten von steil abfallenden Dach, das Innere der Kirche blieb intakt. Tapfere Leipziger löschten die tosenden Flammen und begaben sich in die brennende Kirche, um die unschätzbare Artefakte zu retten. Schließlich war die Kirche das Symbol der Stadt. Genauso wie Notre Dame das Symbol von Paris ist. Die Kirche wurde 1229 zunächst als Dominikanerkloster direkt innerhalb der östlichen Stadtmauern begründet und war mit dem Wachstum der Stadt, die durch Handel und dann durch die Industrialisierung florierte, zum Zentrum der Stadt geworden. Im Jahr 1240 eingeweiht und im 15. Jahrhundert renoviert, predigte Martin Luther, der Mönch im Zentrum der Reformation des 16. Jahrhunderts, in der Kirche, die 1545 protestantisch wurde. Die Kirche blieb auch von den um sie herum tobenden Religionskriegen verschont. Ein Zitat aus einem alten Reiseführer manifestierte seine Pracht. “Die Paulskirche war bekannt als eine der prächtigsten, am besten erhaltenen, offenen Kirchen Mitteldeutschlands, die mit Gräbern, Epitaphien und anderen Artefakten geschmückt war, verflochten mit einer Tradition der Musik Johann Sebastian Bachs und der Geschichte der Reformation. Die Verwendung von “war” ist signifikant. Sie existiert nicht mehr.
University of Leipzig with St Pauls Church
Die Kirche wurde zerstört. Nicht durch Krieg. Sondern durch eine bewusste Handlung. Ein Akt der schließlich, nur 21 Jahre später, die DDR zu Fall bringen würde. Nach 1968 gibt es in den offiziellen Reiseführern der DDR keine Hinweise mehr auf die Kirche. Denn das Regime selbst hatte die Kirche am 30. Mai 1968 mit Sprengstoff zum Einsturz gebracht. Das war der Tag, an dem die DDR faktisch endete. Denn ein Regime, das den Anschein nach seine Legitimität auf dem antifaschistischen Widerstand seit den 1930er Jahren gründete, zeigte hier eine ebenso gefühllose Brutalität wie Stalins Russland. 1968 beschloss das Hardliner-Regime des Leipziger Walter Ulbricht, von den Bürgern der DDR spöttisch “Spitzbart” genannt, die Kirche in die Luft zu sprengen, um den Augustusplatz neu gestalten zu können. Im Mittelpunkt dieser Kampagne stand der SED-Regionalsekretär Paul Fröhlich, der die Universitätskirche und das Augusteum abreißen wollte, um den von der Partei versprochenen “schönsten Platz Europas” zu gestalten. Von den fünf Plänen, die dass das DDR-Regime eingeholt hatte den Platz umgzugestalten, ließ nur einer die Kirche bestehen. Dieser war der Plan, den das kommunistische DDR-Politbüro nicht gutzuheißen vermochte. Vier wollten die Kirche zerstört sehen.
Zum Schock der Leipziger zog die Kommunistische Partei die stumpfen Entwürfe des Berliner Architekten Prof. Henselmann, der die Stalinallee in Berlin gebaut hatte, dem lokalen Architekten Siegel vor. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Henselmann mit seinen Plänen die Universitätskirche St. Paul loswerden würde. Der Grund dafür? Oppositionsgruppen, vor allem die Kirche, versammelten sich vor der Paulskirche. Der Protest wurde durch einen Bibelvers inspiriert: “Er wird richten zwischen den Völkern und wird schlichten für viele Völker; sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Sicheln schlagen; Nation wird nicht Schwert gegen Nation erheben, auch werden sie den Krieg nicht mehr lernen” (Jesaja 2,4). Ein Vers, der auf der Wand des Hauptquartiers der Vereinten Nationen in New York steht. Ein Vers, der Christen dazu inspirierte, in kleiner Zahl zu erscheinen, um gegen das DDR-Regime zu protestieren. Als Symbol ihres Protestes, der von reinem Idealismus inspiriert war, trugen sie die Pflugscharen auf ihren Ärmeln. Für das Regime war dies eine unerträgliche Provokation. Nur drei Autostunden entfernt hatten sich die Prager gegen ihre Unterdrückung erhoben, und der Warschauer Pakt, einschließlich der DDR, hatte Panzer gegen das Volk geschickt.
Die DDR unter dem Regime von Ulbricht wollte eine Botschaft senden. Diese Botschaft war die Zerstörung der Universitätskirche St. Pauli.
St Pauls Church Leipzig being blown up
Um den Menschen in Ostdeutschland zu zeigen, dass die kommunistische Partei mächtig über dem Volk stand, beschloss die Partei am 7. Mai 1968, dass die Kirche und das Augusteum, ein neoklassizistisches Gebäude großer Schönheit, abgerissen werden sollten. Am 30. Mai wurde der Beschluss vollzogen. An diesem Tag läuteten um 10 Uhr morgens alle Leipziger Kirchenglocken zur gleichen Zeit. Wenige Minuten später waren die ersten gedämpften Explosionen zu hören. Augenzeugen beschreiben, wie die ersten Explosionen die Fundamente der 700 Jahre alten Kirche zum Einsturz brachten. Und dann hüllte sich eine riesige Staubwolke um die Leipziger Innenstadt. Es war das Ende einer Ära. Ein mutiger Doktorand und ein Freund am Fachbereich Physik der Universität beschloss zu protestieren. Ihre Tat würde die Geschichte verändern. Harald Fritzsch und sein Freund Günter kauften in einem Laden in Potsdam ein großes Stück gelbes Tuch, etwa 2,5 x 5 Quadratmeter groß, und malten das Bild der zerstörten Universitätskirche mit der Inschrift: “Wir fordern den Wiederaufbau!” und versahen es mit einer Uhr. Als Arbeiter getarnt schmuggelte Gunther das Transparent in die Kongresshalle des Leipziger Zoos, in der am 20. Juni 1968 die Preisverleihung des Internationalen Bachfestes stattfinden sollte. Um genau 20.08 Uhr, während der Preisverleihung, entfaltete sich das Transparent. Der Applaus, das Pfeifen und das Stampfen der Füße dauerte mehr als sechs Minuten und war eine große Geste des Trotzes der Menschen unter dem kommunistischen Regime seit 1945. Ein japanisches und ein tschechisches Fernsehteam zeichneten den Vorgang auf, während ihre Kameras liefen. Das westdeutsche Fernsehen griff das Ereignis auf und übertrug es in die ganze Welt. Das Regime war wütend, und die ganze Stadt stand Kopf. Fitscher und Günter hatten jedoch Pläne gemacht. Einige Monate zuvor hatten sie bemerkt, dass die Boote der ostdeutschen Polizei zwar jeden, der mit einem Boot auf dem offenen Meer nahe der ostdeutschen Küste fuhr, einkreisten, aber das gleiche galt nicht für Varna in Bulgarien. Sie flohen mit einem Faltkanu in die Türkei. Das Ereignis wandelte die ostdeutsche Geschichte. Paul Froehlich, Sekretär der Kommunistischen Partei Ostdeutschlands in Leipzig, wurde als möglicher Nachfolger Ulbrichts gesehen. Er geriet in Wut und bekam einen Herzinfarkt. Sein Tod, wenige Monate später, ebnete Erich Honecker den Weg zum nächsten Führer der DDR. Ein gemäßigter, im Gegensatz zu Froehlich, der die Kirche zerstörte, setzte Honecker in den 1970er Jahren Ostdeutschland auf den Weg der wirtschaftlichen Modernisierung. Dieser mutwillige Akt der Zerstörung hat den Geist des Widerstands nicht zerstört. Die Evangelikalen zogen lediglich in die nur 200 Meter entfernte St. Nikolai-Kirche. Hier fanden 1989 die Proteste statt, die das Sowjetimperium schließlich zu Fall bringen sollten. 21 Jahre später hatte die Kirche Rache genommen.
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